Ich: »Du, sag mal liegen da nicht noch die Prüfungen im Schrank?«
Chef: »Hundert Punkte! – Wer von uns hat noch nicht korrigiert?«
Jetzt bin ich fällig.
Rund 190 Prüfungen. Gott sei dank muss von den am Institut auserwählten Korrektoren jeder nur jeweils eine Aufgabe abarbeiten.
Mist, schon kurz nach vier. Schauen wir mal in die Aufgabe. Sehr kompliziert ist sie nicht, aber es gibt drei Unterpunkte (a,b,c) und drei Gruppen von Arbeiten. Groß sind die Unterschiede aber nicht, nur eben so, dass abschreiben nicht geht.
Als erstes wird der Bewertungsmaßstab festgelegt: was gilt noch, was ist eindeutig falsch. Lehrbriefe und ein Nachschlagewerk verschaffen Sicherheit im eigenen Wissen. Einige Dinge sind eh erst zu entscheiden, wenn man über sie stolpert. Wichtig ist, dass man die Entscheidungen gut begründet fällt und durchziehen kann, um nicht hinterher den Maßstab anpassen zu müssen. Dann müsste jede Arbeit nochmal in die Hand genommen werden. Die getroffene Bewertung zu dokumentieren ist wohl nicht verkehrt. Irgendwelche Studenten kommen nachher sicher ihre Arbeiten einsehen, dann braucht man den Bewertungsmaßstab als Argumentationshilfe. Die Verteilung der Punkte auf die Teilaufgaben noch festlegen und loskorrigieren. Halt! Arbeitssetup fehlt noch:
Braunscher Bewegungserzeuger (Tasse schwarzen Tees) als Universen-Normal – das ist unglaublich wichtig: Je mehr Arbeiten man in der Hand hatte, desto unerwarteter kommt es zu unvorhersehbaren Realitätsschwankungen durch studentische Phantasien, die in den Prüfungen niedergeschrieben wurden. Zweifel an einem selbst! dann braucht man einen Bezug, einen sehr realen. Wiederum andere Antworten erfordern eine gewisse Leichtigkeit, gar Heiterkeit. In guter Balance mit schwarzem Tee ist ein Bier Garant für stabiles Korrigieren. Rote Klebezettel markieren Problemfälle. Jetzt gehts aber los.
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Gewisse Erwartungen in den Grenzen meines eigenen Erfahrungshorizontes kann ich gut als gesprengt bezeichnen. Studenten haben mehr Phantasie, als ich mir ausmalen konnte. Reinweg erfundenes steht gleich neben richtigem. „Erklären Sie folgendes Symbol aus einer technischen Zeichnung:“ Was da so zusammenhaluziniert wurde, erstaunlich! Am harmlosesten ist noch die verbale Beschreibung des Symbols mit literarischen Anwandlungen. Zwei Hauptsätze auf eine dreiviertel Seite gedehnt – trotzdem falsch. Man fragt sich auch, warum einer zum Thema ein winziges Detail ausführlich kennt, aber einen großen Zusammenhang nicht! Wahrscheinlich auswendig gelernt? Aber auch ganz banales: Über einer Antwort habe ich gut 5 min gegrübelt, nicht weil ich uneins war: ein Arzt hat ’ne Schönschrift dagegen. Suchspielchen: a,b und c einer Aufgabe über drei Blätter verteilt zwischen anderen Aufgaben. Ein Student hat neben seine Aufzählung am letzten Punkt „nicht ernst gemeint“ hingeschrieben. Neben meiner niederschmetternden Bewertung steht „ernst gemeint“.
Was mich nicht weiter wundert ist, wie mit eigenem Unwissen umgegangen wird: Je blasser der Dunst eines Studenten zu einer Frage ist, desto überzeugter ist die – offensichtlich falsche – Antwort geschrieben. Sicher gab’s das bei mir auch, aber je mehr Semester sich summierten, desto wenige nebelte ich – dann lieber gar nichts schreiben. Die Gefahr, von einem Korrektor wiedererkannt zu werden, wurde zu groß, da sich die Studentenzahlen mit den höheren Semestern stark veringerten. Die Spezialisierung tat ihr Übriges dazu. Mir wär’s zu peinlich gewesen mit „Nebel“ in Verbindung gebracht zu werden. Heute etwas nicht zu wissen, scheint ein größere Schmach zu sein, als Unwissen zuzugeben: lieber schnell was hinphantasieren. Was aber für Verkäufer Tugend ist, ist bei Ingenieuren untragbar – meiner bescheidenen Meinung nach.
Als denn, es ist dreiviertel zwölf. Fertig. Es regnet. Ich werd nach Hause traben. Meine heitersten Momente beim Korrigieren werde ich evtl. mal in diesem Blog teilen können. (swg)